
Ein paar Worte zu… Nicole Boyle Rodtnes – Wie das Licht von einem erloschenen Stern
Nicole Boyle Rodtnes Wie das Licht von einem erloschenen Stern |
Worum geht es?
Wie hat es mir gefallen?
Einst eines der beliebtesten Mädchen der Schule, fest integriert in einer hippen Clique und mit einem politisch-engagierten Jungen zum Freund wird Vega aus ihrem doch sehr sozialen Leben in nur einer Nacht hinaus katapultiert. Ihre sprachliche Beeinträchtigung wird zu einer sprachlichen Barriere, mündliche Kommunikation scheint nicht möglich. Von Normalität kann da keine Rede mehr sein, doch was ist schon normal und wer bestimmt das eigentlich? Normalität ist eine gesellschaftlich gesetzte Konvention. Überraschung: wir bestimmen tagtäglich mit unserem Tun, was als normal gilt und was nicht. Wie das Licht von einem erloschenen Stern zeigt daher an nicht gerade wenigen Stellen auf, wie Vega durch ihre Umwelt behindert und zum „sprachlichen Krüppel“ gemacht wird.
Früher ist mir das [Sprechen] nie schwergefallen. Ich konnte über alles und nichts reden, aber wenn man drei Monate lang zuhören muss, nur zuhören, dann stellt man fest, wie viele belanglose Dinge gesagt werden. Und ich will um nichts in der Welt etwas Belangloses sagen. (S. 180)
Direkt nach ihrem Unfall besuchen ihre beste Freundin Ida und ihr Freund Johan sie noch relativ regelmäßig, doch der unkontrollierte Buchstabenwasserfall, der Vega entweicht verunsichert gerade die beiden Personen, die im Leben eines jungen Teenagers wohl am Wichtigsten sind: Freunde. Und so kommt es, dass die Besuche immer weniger werden und für Vega alles ungesagt bleibt. Selbst körperliche Nähe bringen Vega und Johan nicht mehr einander näher.
Als ich das Schweigen nicht mehr ertragen kann, beuge ich mich vor und küsse ihn. (…) Ich schließe die Augen und genieße es, dass es Dinge gibt, die selbst dann möglich sind, wenn man nicht sprechen kann. Wir haben nie so viel Sex gehabt wie seit meinem Unfall. Nur dabei komme ich mir noch immer normal vor. Nur dabei enttäusche ich ihn nicht. (S. 23)
Und so leben Vegas Freunde weiterhin ihr Leben, fahren auf Klassenfahrt, feiern Parties und posten Bilder davon bei Facebook, während Vega zuhause ihre Mauern weiter hochzieht und versucht die Sprache wiederzufinden – eine Suche, die vor allem durch viele unerträgliche Misserfolge geprägt ist. Von ihrer Mutter, die unendlich viel Kraft braucht, um ihre Tochter zu unterstützen, lässt sie sich zäh dazu überreden, einen Sprachworkshop der Selbsthilfeorganisation zu besuchen. Erst dort trifft sie auf jemanden, dem es genauso ergeht wie ihr: Theo. Einer, der ihr Leben ein kleines bisschen besser macht, aber nicht weniger unnormal behandelt wird.
Und so sitzen wir hier, zwei mit Gehirnschaden, zwei, die beide fallengelassen worden sind. (…) Und als es passiert ist, konnte sein Ego [Johans] die Vorstellung nicht ertragen, dass er eine Kranke verlassen würde. (S. 127)
Mit der Annäherung zwischen Theo und Vega verschiebt sich auch der Fokus der Geschichte. Wohingegen sich die ersten hundert Seiten vor allem auf Vega und den Umgang mit ihrer Beeinträchtigung beziehen, werden in der weiteren Hälfte des Buches mehr Details offenbart. Denn Vega hat auch noch eine kleinere Schwester, die ganz besonders unter dem Sprachdefizit zu leiden scheint. In stetigen Flashbacks wird außerdem eine verschwommene Erinnerung Vegas beschrieben, die nach und nach mehr von der Unfallnacht erzählt. Der Höhepunkt des Ganzen und somit auch die Auflösung der Geschichte traf mich gänzlich unerwartet, hat mich daher aber auch nachwirkend beeindruckt.
Insgesamt halte ich Wie das Licht von einem erloschenen Stern von Nicole Boyle Rodtnes gerade deshalb als besonders lesenswert, weil eine Beeinträchtigung hier nicht nur als Mittel zum Zweck genutzt wird – die sogenannte Betroffenheitskeule. Tatsächlich wird hier ganz klar Vielfalt nicht nur als solche thematisiert, sondern auch wertgeschätzt. Quasi ein Sprachrohr für all jene, die sich nicht äußern können, die täglich mit solchen Barrieren kämpfen müssen und kilometerweite Seen durchschwimmen, um das Beste aus ihrem Zustand zu machen – mit all ihren Misserfolgen. Das passt wiederum auch zur Schreibmotivation der Autorin, denn Nicole Boyle Rodtnes hat selbst einen Aphasie-Patienten in ihrer Familie und wollte aufzeigen, wie eine Person unsichtbar wird, wenn ihr die Worte für alles fehlen. Dieser Fingerzeig ist ihr sowohl stilistisch als auch inhaltlich mehr als gelungen und ich habe fünf von fünf Sternen vergeben.
Lieblinks
Livia
Liebe Patrizia
Das Buch ist schon länger auf meiner Wunschliste und ich hatte bei Buchverlosungen dazu bis jetzt leider nie Glück. Deine Rezension verleitet mich aber doch dazu, mir das Buch bald einmal zu kaufen.
Danke fürs Erinnern 🙂
Ganz liebe Grüsse
Livia